14.06.2025
Presseaussendung: Kinder-NGOs fordern: Echte Gewaltprävention und kindgerechte Krisenhilfe JETZT
Wien, am 14. Juni 2025. In Folge der tragischen Erlebnisse in Graz stellen sich viele Fragen. Die Drängendste davon ist: Was muss geschehen, damit Kinder und Jugendliche in Österreich sicher und unterstützt aufwachsen können? Die Kinder- und Jugendorganisationen Rat auf Draht, das Österreichische Jugendrotkreuz, die möwe, die Österreichische Liga für Kinder- und Jugendgesundheit und SOS-Kinderdorf, zeigen gemeinsam zentrale Anliegen und Handlungsfelder auf, die über das oft zu kurz greifende Narrativ psychischer Gesundheit hinausgehen. Denn: Gewaltprävention ist kein Einzelschicksal - sie ist systemisch und braucht ein Bündel konkreter Maßnahmen.
Rat auf Draht, das Österreichische Jugendrotkreuz, die Österreichische Liga für Kinder- und Jugendgesundheit, die möwe und SOS-Kinderdorf appellieren im Schatten des Amoklaufs in Graz: Jetzt ist die Zeit, um zu handeln.
Rat auf Draht: Psychosoziale Beratung ist systemrelevant
„Unsere Beratungen sind in den letzten Tagen drastisch angestiegen. Viele Kinder und Jugendliche hatten große Angst, dass etwas Ähnliches an ihrer Schule oder dem unmittelbaren Umfeld passieren könnte. Viele Eltern beschäftigen die Gründe für diese Tat und wie sie mit ihren Kindern am besten darüber sprechen und sie gut auffangen können. Allen gemeinsam war das Gefühl der Ohnmacht, das stark spürbar war“, schildert Nora Deinhammer, Geschäftsführerin von Rat auf Draht die letzten Tage. Das aktuell hohe Beratungsaufkommen zeigt, wie wichtig und systemrelevant psychosoziale Anlaufstellen für Kinder und Jugendliche, aber auch für Erwachsene sind. „Dies gilt nicht nur für extreme Krisensituationen. Denn psychische Belastungen sind heute in unserem Lebensalltag allgegenwärtig. Multiple gesellschaftspolitische Krisen, Zukunftsängste oder auch digitale Phänomene wie Sextortion oder Cyber-Mobbing, lösen bei jungen Menschen eine hohe Verunsicherung und Angst aus. Diese Mischung sorgt dafür, dass sich die Eskalationsschraube immer weiterdreht. „Unser Hauptanliegen ist, jungen Menschen diese Ohnmacht zu nehmen und selbstwirksam sein zu können. Denn Kindern und Jugendlichen fehlt es an den Instrumenten, um damit umzugehen. Es liegt an uns als Gesellschaft, ihnen diese zu geben“, sagt Deinhammer. Und setzt fort: „Daher fordern wir: Einen niederschwelligen, flächendeckenden und dauerhaft finanziell abgesicherten Zugang zu psychologischer und sozialer Unterstützung - über etablierte Angebote wie etwa Rat auf Draht, durch mehr Schulpsychologinnen und Schulsozialarbeiterinnen sowie über kostenlose Therapieplätze“, so Deinhammer.
SOS-Kinderdorf: Konsequente Politik für das Wohl von Kindern und Familien
„So ist SOS-Kinderdorf seit 2014 Träger von Rat auf Draht. Noch wird das Angebot vor allem durch Spenden finanziert - doch das darf auf Dauer keine private Aufgabe bleiben. Der Bedarf ist enorm – diese Hilfen müssen strukturell abgesichert, öffentlich finanziert werden und allen zugänglich sein“, erklärt Annemarie Schlack, Geschäftsführerin von SOS-Kinderdorf. Viele der rund 1.800 Kinder und Jugendlichen, die aktuell in stationären Angeboten von SOS-Kinderdorf und die mehr als 3.600 weiteren, die gemeinsam mit ihren Familien betreut werden, haben Gewalt, Vernachlässigung oder emotionale Instabilität erlebt. „Wir wissen aus unserer täglichen Arbeit: Kinder brauchen Sicherheit, stabile Beziehungen und ein liebevolles Umfeld“, betont Schlack. „Deshalb fordern wir: Machen wir den Schutz, die Beteiligung und das gesunde Aufwachsen von Kindern zur verbindlichen Leitlinie politischen Handelns und setzten wirksame Maßnahmen.“ SOS-Kinderdorf sieht akuten Handlungsbedarf in mehreren Bereichen. So braucht es eine nachhaltige Stärkung von Familiensystemen. Wenn berufstätige Eltern kaum mehr in der Lage sind, die Grundbedürfnisse ihrer Kinder abzusichern und kleine Krisen ganze Familiensysteme aus dem Gleichgewicht bringen, ist strukturelles Gegensteuern gefragt, auch finanziell. „Die geplante Aussetzung der Valorisierung von Familienbeihilfe und Kinderbetreuungsgeld setzt genau hier ein falsches Signal. Wer das Kindeswohl ernst nimmt, muss Familien stabilisieren - finanziell, sozial und strukturell“, fordert Schlack.
Österreichisches Jugendrotkreuz: Präventionsangebote in Schulen und verbindliche Jugendarbeit stärken
„Um einem gesunden und sicheren Aufwachsen nachzukommen ist es wichtig, auf Prävention zu setzen“, sagt Sonja Kuba, Leiterin des Österreichischen Jugendrotkreuzes. Kompetenzen, die in Präventionsprogrammen erlernt werden, tragen dazu bei, mit Ausnahmesituationen besser umzugehen und stärken die eigene Handlungsfähigkeit, um sich und anderen in Notfällen zu helfen. Einen Beitrag dazu kann das Lernen von wichtigen (Über)Lebenskompetenzen wie jener der Ersten Hilfe sein. „Rund 90.000 Schüler:innen machen mit dem Österreichischen Jugendrotkreuz pro Jahr einen Erste-Hilfe-Kurs an ihrer Schule, hier wäre noch mehr möglich“, sagt Kuba. Ebenso gibt es bereits verschiedene Angebote im Bereich der Psychischen Gesundheit, allerdings fehlt oftmals Finanzierung, um diese flächendeckend anbieten zu können. Mit den Angeboten von Psychischer Ersten Hilfe über das Jugendrotkreuz konnten im letzten Jahr mehr als 5.000 Jugendliche der Sekundarstufe zwei Workshops besuchen und erste wichtige Kompetenzen erlernen, um auf die eigene psychische Gesundheit, aber auch auf jene anderen Menschen zu achten. Angebote wie dieses müssten ausgebaut und im besten Fall auch auf jüngere Zielgruppen umgelegt werden, wie auch im Sinne der Chancengerechtigkeit, speziell in vulnerablen Zielgruppen besser verankert werden. Kuba: „Es braucht einen systemischen Ansatz, der bereits frühzeitig Kompetenzvermittlung zur psychischen Gesundheit in den Fokus rückt“.
Österreichische Liga für Kinder- und Jugendgesundheit und die möwe Kinderschutz: Gewaltprävention, Ausbau von Schulgesundheit, medienethische Richtlinien, Waffenbesitz für Privatpersonen nur mehr bei besonders begründetem Bedarf
Prävention ist auch für Hedwig Wölfl, Vizepräsidentin der Österreichischen Liga für Kinder- und Jugendgesundheit und Leiterin der möwe, ein essenzieller Kernpunkt ihrer Forderungen: „Kinder sollen ab der ersten Schulstufe qualitätsgesicherte und altersentsprechende Gewaltpräventionsworkshops zu den Themen gewaltfreie Kommunikation, beziehungsförderndes Verhalten, konstruktive Konfliktlösung, Medienkompetenz, Umgang bei Grenzverletzungen, Übergriffen und Mobbing und sexuelle Bedürfniswahrnehmung erhalten“. Zudem sollen multiprofessionelle Schulgesundheitsteams (Schulpsychologie, Schulsozialarbeit, school nurses, etc.) an jedem Standort niederschwellig und durchgängig verfügbar sein. Eine Evaluierung der Kinderschutzkonzepte sowie standortspezifische Risikoanalysen und zusätzliche Schulungen der Kinderschutzbeauftragten seien ebenso dringend nötig. Gerade weil in einigen (sozialen) Medien die bilddominierte Berichterstattung entgleist, wären medienethische Selbstbeschränkungen und Richtlinien - sowie nach Suiziden - auch rund um derartige tödliche Angriffe ein wichtiger präventiver Beitrag gegen Nachahmungstaten. Zuletzt spricht sich Wölfl im Sinne des Opfer- insbesondere Kinderschutzes auch dafür aus, dass Privatpersonen nur mehr bei besonders begründetem Bedarf eine Waffe besitzen dürfen. „In Bezug auf die aktuell geltenden Bestimmungen sind ausführlichere, nicht beliebig wiederholbare psychologische Testungen inklusive eines verpflichtenden Explorationsgesprächs, namentliche Registrierung der Testung und Gegencheck mit anderen Eignungseinschätzungen, z.B. Untauglichkeit für den Wehrdienst, sowie regelmäßige Überprüfungen im Abstand weniger Jahre nach Zuerkennung zu empfehlen“, so Wölfl abschließend.
Kinderliga-Vizepräsidentin Hedwig Wölfl im Interview nach Amoklauf an Grazer Schule
Hedwig Wölfl sprach als Expertin im Bereich Kinderschutz darüber, wie man als Eltern mit der Situation umgehen sollte und wie sie ihre Kinder begleiten können. Ein proaktives Ansprechen und das Erklären von Fakten sei hilfreich und empfehlenswert.
Das gesamte Interview ab Minute 33 finden Sie hier unter: https://on.orf.at/video/14279687/orf-iii-aktuell-spezial-amoklauf-in-graz