Eröffnungsrede soziale Gerechtigkeit
von Hedwig Wölfl (Vizepräsidentin der Kinderliga)
Liebe Liga-Mitmenschen,
Soziale Ungerechtigkeit beginnt meist ganz leise.
Nicht mit einem lauten Schrei. Nicht mit einer offiziellen Entscheidung. Sondern damit, dass ein Kind nicht gefragt wird, wie es ihm geht. Dass niemand merkt, wie es sich Tag für Tag kleiner macht, sich gegen sein eigentliches So-Sein anpasst, nur um nicht aufzufallen. Um nicht zu stören. Um irgendwie dazuzugehören. Weil Zugehörigkeit unsere größte Sehnsucht ist und bei uns Menschen, die wir als abhängige Wesen geboren werden, auch eine Notwendigkeit ist.
Soziale Ungleichheit beginnt oft unsichtbar und ist in einem der reichsten Länder der Welt selten offensichtlich. Aber ihre Folgen sind laut – und lebenslang.
Schon in unseren alten Märchen wird viel von sozialer Ungleichheit erzählt: es werden Kinder in Rollen geboren, aus denen sie nur mit Mühe und viel Herz und Verstand herauskommen: Aschenputtel, das im eigenen Haus gedemütigt wird und viel mehr leisten muss als die Stiefschwestern, Pechmarie, die nicht in die Welt passte, weil sie anders ist und sich bei Frau Holle beweisen muss. Hänsel und Gretel, ausgesetzt, weil zuhause kein Platz, keine Liebe, keine Nahrung mehr da ist. Märchen sind Entwicklungsgeschichten, die immer gut ausgehen, wo das Aschenputtel zur Prinzessin, der Müllersohn zum König werden kann, und damit sozialer Ausgleich hergestellt wird.
In Echt ist das selten so, aber ihre Botschaft ist aktuell, weil eben soziale Ungerechtigkeit kein Märchen ist, sondern eine sehr reale Ausgangssituation, die nach einer guten Entwicklung schreit: Wie wir mit Kindern umgehen, zeigt, was uns als Gesellschaft wirklich wichtig ist.
Heute werden Kinder nicht mehr in Schlössern oder Hütten geboren – sondern in vielfältige Ungleichheiten hinein, die mit Daten, Diagnosen und Chancenquoten belegbar sind. Es gibt Kinder, die hungern – nicht nur nach Brot, sondern nach Berührung, nach Aufmerksamkeit, nach einem Menschen, der sagt und auch meint: „Du bist wichtig.“
Global gesehen klafft die Ungerechtigkeit der Bedingungen für Kindsein extrem auseinander. Ein Kind, das in einem Slum in Nairobi, im zerbombten Gaza oder illegal in Texas aufwächst, hat andere Startchancen als eines in Döbling oder auch in Villach. Aber auch mitten unter uns hier im idyllischen gemütlichen Österreich erleben Kinder stille Ungerechtigkeit: Sie leben in materiell gesicherten Haushalten, haben ein eigenes Zimmer, besuchen gute Schulen, haben ein Handy – und doch fragt sie oft niemand, wie sie sich fühlen. Ihre Eltern sind vielleicht erfolgreich, jedenfalls beschäftigt, oft leistungsorientiert – aber emotional für ihre Kinder nicht erreichbar. Manchmal wird lieber prophylaktisch Geld für Psychotherapie ausgegeben, als selbst für ein Kind da zu sein. Andere Kinder haben Eltern, die sie nicht fördern können, die ihnen nicht die Sprache der Mehrheitsgesellschaft beibringen, die nicht mit der Kindergärtnerin, dem Psychologen, der Volksschullehrerin, dem Ergotherapeuten gemeinsam Hilfestellungen besprechen können, weil sie diese Sprache nicht verstehen, sich selbst ausgeschlossen fühlen.
Und dann sind da die Kinder, die gar kein Zuhause mehr haben. Die in Krisenzentren oder Wohngruppen untergebracht sind – nicht, weil sie versagt haben, sondern weil Erwachsene versagt haben, sie zu schützen. Und selbst dort, wo Sicherheit versprochen wird, erleben manche erneut Gewalt, Kontrolle, Ablehnung. Das ist ungerecht.
Was bedeutet Teilhabe in einer Welt, in der Kinder nur dann sichtbar werden, wenn sie funktionieren? Oder dann, wenn sie Probleme machen?
Was bedeutet gesundes Aufwachsen, wenn psychische Gesundheit ein Luxus ist – und keine Selbstverständlichkeit?
Wir brauchen eine neue Vorstellung von GeRECHTigkeit. Nicht nur gleiche Chancen auf dem Papier. Sondern ein echtes Sehen. Ein echtes Sorgen. Ein echtes Annehmen. Eine Gesellschaft, die JEDEM Kind sagt: „Du bist willkommen – genau so, wie du bist.“
Soziale Gerechtigkeit ist nicht erreicht, wenn ein paar wenige gefördert werden, während andere übersehen werden. Sondern wenn kein Kind mehr beschämt wird, weil es anders aussieht, anders redet, anders riecht, anders denkt, anders glaubt oder handelt – als die Kinder, die auf Instagram zu Stars erklärt werden.
Soziale Gerechtigkeit entsteht, wenn wir aufhören, Unterschiede zu bewerten – und anfangen, über Gemeinsamkeiten zu reden. Nicht über Sonderstellungen, sondern über Gleichstellung.
Soziale Gerechtigkeit braucht Buntheit, Vielfalt und das Lachen und Freudehüpfen aller Kinder. Eine gerechte Gesellschaft ist nicht die, in der alle gleich sind – sondern die, in der Unterschiede nicht zu Nachteilen führen.
Denn nur dann – wenn kein Kind mehr lernen muss, sich anders zu machen, um in diese Welt zu passen – ist unsere Gesellschaft wirklich gerecht.
(Hedwig Wölfl, Vizepräsidentin der Kinderliga, Juni 2025)